Ein ebenso stiller wie intensiver Roman über die ungewöhnliche Beziehung und Verbundenheit zweier junger Frauen.
Eine junge Frau folgt den Spuren ihres verstorbenen Bruders von Rom nach Shanghai. Hier träumte er davon ein Restaurant zu eröffnen. Nach dessen Tod bleibt eine Leere zurück, welche die Frau und namenlose Erzählerin vergeblich zu füllen versucht. Auf der Suche nach Halt, Sinn und nach sich selbst, begegnet Sie der geheimnisvollen Xu. Dies ist aber nicht der Beginn einer zarten Liebesromanze.
Selbstzerstörendes Begehren
Viola Di Grado erzählt in Blauer Hunger die Geschichte einer ungewöhnlichen Beziehung zweier Frauen, verbunden in ihrem Seelenschmerz. Nähe und Distanz, Verlangen und Zurückweisung, sowie Unterwerfung und Selbstaufgabe sind nahezu untrennbar miteinander verknüpft. Xu bleibt kühl und unnahbar, bestimmt die Koordinaten der Gemeinsamkeit, während sich die Erzählerin zunehmend in eine Beziehung voller emotionaler Unwucht stürzt.
Viola Di Grado lässt uns an der tiefgründigen Gefühlswelt der Erzählerin teilhaben, rutscht nicht ins Sentimentale ab. Ihre Sprache hat etwas Abgeklärtes und wirkt dennoch dicht, mal eindringlich, mal dunkel schimmernd, mal mit kraftvoller Poesie. Immer wieder gestaltet sie dabei Szenen mit starker Symbolik, und wir können nachfühlen, wenn die Erzählerin durchdrungen von Einsamkeit, Schmerz und verzweifelten Begehren die Nähe von Xu sucht. Nicht zuletzt ist es auch der feinfühligen Übersetzung von Stefanie Römer zu verdanken, dass diese Ambivalenz, das Fragile und das ebenso Sinnliche im Deutschen ihre Wirkung entfaltet.
Innere und äußere Wunden
Erotik nimmt einen besonderen Raum ein, ist wie die körperlich gewordene Essenz der ungleichen Verbindung. Sie ist roh, verletzlich, bisweilen verstörend, findet auch an ungewöhnlichen Orten statt, wie verfallenen Textilfabriken oder Schlachthöfen. Und so ist Shanghai mehr als nur Kulisse. Die chinesische Metropole ist Resonanzraum und spiegelt mit den Gegensätzen das innere Chaos der Protagonistin wider.
Die Vergangenheit der Figuren bleibt dabei eher vage erzählt – und doch gelingt es Viola Di Grado, dass uns die Figuren zwar fragmentarisch aber in ihrer Biografie und Vielschichtigkeit greifbar erscheinen. Schatten der Kindheit, der Verlust des Bruders und vor allem die innere Zerrissenheit durchdringen die Geschichte immer wieder.
Fazit
Blauer Hunger ist ein unerwartet eindringlicher, ein ebenso stiller wie intensiver Roman über die ungewöhnliche Beziehung und Verbundenheit zweier junger Frauen. Nach einem dramatischen und berührenden Ende verweile ich noch kurz in Shanghai und wünsche mir so sehr, dass beide ihren Schmerz heilen können und in ihrem Verlangen nach Liebe und ihren tiefen Sehnsüchten nun in eine gemeinsame Zukunft blicken mögen.

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